Cover
Titel
Cinematic Settlers. The Settler Colonial World in Film


Herausgeber
Lahti, Janne; Weaver-Hightower, Rebecca
Erschienen
London 2020: Routledge
Anzahl Seiten
xviii, 236 S.
Preis
£ 27.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maximilian Rünker, Graduiertenkolleg Medienanthropologie, Bauhaus-Universität Weimar

Der Anthropologe Patrick Wolfe prägte den Satz: „[I]nvasion is a structure, not an event“.1 Damit ist der Umstand gemeint, dass die Formen des Kolonialismus, die mit der Sesshaftigkeit europäischer Siedler:innen einhergehen und damit stets die gewalttätige Unterdrückung und Vertreibung der indigenen Bevölkerung einschließen, alles andere als ein abgeschlossenes historisches Phänomen darstellen. Die noch heute wirkmächtigen Formen der Landnahme, der teils zwanghaften Umsiedlung sowie der rassistischen Strukturen in Verwaltung und in Politik zeugen vielmehr von Kontinuitäten, die von den ersten kolonialen Siedlungen des 17. Jahrhunderts bis zur Gegenwart reichen.

Dieser Argumentation sieht sich der von Rebecca Weaver-Hightower und Janne Lahti herausgegebene Sammelband Cinematic Settlers offenkundig verpflichtet. Dies zeigt sich nicht nur darin, dass Wolfe in nahezu sämtlichen Beiträgen mit der obenstehenden Aussage zitiert wird. Vielmehr reichen die besprochenen Filme von Beispielen des frühen Films, zum Beispiel De Voortrekkers (RSA, 1916), bis hin zu Produktionen des vergangenen Jahrzehnts, zum Beispiel Interstellar (USA, 2014) und Hunt for the Wilderpeople (NZL, 2016). Der Band geht dabei von der Annahme aus, dass das Medium Film (im Gegensatz zur Literatur) bislang kaum Beachtung in der geschichts- und kulturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Settler Colonialism erfahren habe. Dies ist insofern gerechtfertigt, als abgesehen von zwei einschlägigen Publikationen in der Tat eine Lücke im Forschungsstand klafft.2 Jedoch scheint dies wiederum das Resultat einer gewissen methodischen Grundannahme zu sein, die sich auch in diesem Buch niederschlägt: nämlich, dass es sich bei den Filmbeispielen um Variationen der genrespezifischen Tropen des Westerns handelt.

Trotz dieser expliziten Bezugnahme auf dieses dezidiert US-amerikanische Filmgenre zeichnet sich Cinematic Settlers insbesondere durch seine kulturräumliche Bandbreite aus: Die einzelnen Beiträge nehmen Bezug auf Filme und historische wie kulturelle Situationen in Australien, Neuseeland, Kanada, Taiwan, Russland, Frankreich, Algerien, Südafrika, Bolivien, Paraguay sowie den USA und den ehemaligen Kolonien des deutschen Kaiserreichs im heutigen Kamerun. Gemein ist allen Texten, dass sie großen Wert auf eine detaillierte und teils anekdotenhafte Darstellung der jeweiligen kolonialen Vergangenheit sowie der sozialen und politischen Zustände legen. Die Autor:innen legen somit eine große kulturgeschichtliche Sensibilität an den Tag und machen den jeweils spezifischen, kulturräumlichen Fokus nachvollziehbar.

Besonders eindrucksvoll gelingt dies, wenn das Medium Film zugleich als Artikulationsform und als Werkzeug zur Befragung von Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur genutzt wird. Drei hervorzuhebende Beiträge machen dies deutlich: Wolfgang Fuhrmann bespricht in seinem Text die massenmediale Rezeption des Films Unser Haus in Kamerun (BRD, 1961). Er sieht hier einen medienhistorischen Moment, in dem das Fernsehen die Rolle als prägendes, die gesamtgesellschaftliche Meinungsbildung beeinflussendes Massenmedium übernommen hat, die in den vorhergehenden vierzig Jahren der Film innehatte. Während die Anfang der 1960er-Jahre heranwachsende Generation eine Problematisierung sowohl der kolonialen als auch faschistischen Vergangenheit fordert (und dies zum Beispiel in Ralph Giordanos Fernsehdokumentation „Heia Safari“ umgesetzt sieht), erleben ältere Generationen die Heimatfilmästhetik und stereotype Figurenzeichnung in „Unser Haus in Kamerun“ als problemlos. Der Film wird so zum einen Träger eines Medienkonflikts, der sich zum anderen als politischer Generationenkonflikt erweist.

Der zweite hervorzuhebende Beitrag von Travis Franks behandelt den Film Australia (AUS, 2008). Franks These zielt darauf, dass der Film in seiner Figurenzeichnung und im narrativen Aufbau eine koloniale Nostalgie evoziert, die die historische Gewalterfahrung der Landnahme romantisiert. Er sieht den Film demnach in Korrespondenz zu der öffentlichen Entschuldigung des damaligen australischen Ministerpräsidenten Kevin Rudd im selben Jahr, in dem „Australia“ veröffentlicht wurde. Beide beruhen auf einem Begehren der weißen Mittelschicht nach einem multikulturellen und konfliktlosen nationalen Selbstverständnis und einer amnestierten Erinnerungskultur.

Schließlich diskutiert Natale Zappia in seinem Text den Film In Land of the Head Hunters (USA, 1914). Er begreift Film hierbei maßgeblich als Medium des Aufzeichnens und Wiedergebens, also als spezifische Form des Archivierens. Wie Zappia anhand von Interviews nachzeichnet, wird dieser Umstand von den Nachfahren der in dem Film zu sehenden Kwakwaka´wakw affirmiert und begrüßt. Film wird so zu einer weiteren Form des Tradierens jenseits der schriftgebundenen Dokumente. Zugleich eröffnet Zappia damit eine Möglichkeit, um das komplexe Verhältnis von Kooperation, Konflikt und kolonialer Geste des ethnografischen Films auszuloten: „In the Land of the Head Hunters“ wird so zu einer „invitation to think about Indigenous actors as producers and consumers of modern culture, both within and in spite of settler colonialism“ (S. 137).

Trotz dieser stets filmbezogenen Auseinandersetzung bleiben zwei Aspekte, die durch die einzelnen Beiträge nicht geliefert werden. Erstens gehen die Beiträge wenig bis überhaupt nicht auf die Spezifika der Filmästhetik ein: Bildgestaltung, Montage, Kadrierung oder der Einsatz der Tonspur werden in den Analysen selten herangezogen, wodurch diese häufig auf der Ebene einer Untersuchung von Narration und Repräsentation verbleiben. Zweitens unterbleibt eine entschiedene Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Film und Kolonialismus: Dieser drängt sich nicht nur durch den historischen Entstehungsrahmen der ersten Filmproduktionen auf, sondern er würde ebenso die Frage nach der Produktion und Distribution von Bildern und deren Bedeutung für post- und dekoloniale Bemühungen nahelegen.3 Gerade durch die erwähnte Aktualität von Kontinuitätslinien des Settler Colonialism hätte dies wichtige Ergebnisse und Impulse liefern können.

Der Sammelband erscheint so als eine Lektüre, die besonders für fortgeschrittene Studierende hilfreich erscheint. Dies wird vor allem durch den klaren und stringenten Aufbau begünstigt: Die insgesamt 16 Beiträge sind in vier Abschnitte („Conquest“, „Settlers“, „Natives“, „Space“) à vier Texte unterteilt. Jeder einzelne Beitrag endet wiederum mit einer Conclusio, die die zentralen Thesen und Argumente pointiert rekapituliert und zusammenfasst. Darüber hinaus gelingt es sämtlichen Autor:innen, nicht nur den kulturräumlichen Schwerpunkt zu erläutern, sondern ebenso die einzelnen Filmbeispiele gut und lebhaft darzustellen. Die Beschreibungen der jeweiligen Handlung sowie einzelner Szenen sind stets nachvollziehbar und bringen die Filme auch Leser:innen näher, die diese nicht gesehen haben. Wegen seiner Vielfältigkeit und Vielstimmigkeit bietet Cinematic Settlers für Studien- und Forschungsinteressierte aus den Film- und Medienwissenschaften ebenso reizvolle Inhalte wie für Vertreter:innen der Kultur- und Geschichtswissenschaften sowie einzelner Philologien.

Anmerkungen:
1 Patrick Wolfe, Settler Colonialism and the Transformation of Anthropology. The Politics and Poetics of an Ethnographic Event, New York 1999.
2 Peter Limbrick, Making Settler Cinemas. Film and Colonial Encounters in the United States, Australia, and New Zealand, New York 2010; Corinn Columpar, Unsettling Sights. The Fourth World on Film, Carbondale 2010.
3 siehe hierzu: Maja Figge, Deutschsein (wieder-)herstellen. Weißsein und Männlichkeit im bundesdeutschen Kino der fünfziger Jahre, Bielefeld 2015; Tobias Nagl, Die unheimliche Maschine. Rasse und Repräsentation im Weimarer Kino, München 2009.